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Sabine Lamprecht, MSc. Neurorehabilitation

Kliniken Schmider (Stiftung & Co.) KG, Allensbach

 

Lamprecht Sabine

 

Interview vom 27. Juli 2015 zum Vortrag „Neurorehabilitation bei Parkinson und Multipler Sklerose" (durchgeführt von Christine Keller)

 

Was bedeutet es, Multiple Sklerose (MS) bzw. Parkinson zu haben?

Schwer zu sagen, denn alle Patienten sind verschieden und haben ganz unterschiedliche Alltagsprobleme und Ziele. Insbesondere bei MS, aber auch bei Morbus Parkinson können die Verläufe sehr variieren. Da Parkinson eine degenerative, fortschreitende Erkrankung ist und auch MS häufig einen progredienten Verlauf zeigt, sind die Betroffenen und Angehörigen oft sehr verunsichert und auch psychisch sehr belastet. Insgesamt verarbeiten jedoch die Betroffenen ihre Erkrankungen sehr individuell unterschiedlich.

 

Sie sprechen von einem Paradigmenwechsel in der Neurorehabilitation bei der Behandlung von Menschen mit MS und Parkinson. Können Sie uns vielleicht kurz schildern, wie die Therapie bisher aussah?

Bisher wurden häufig einzelne Gelenke oder Muskeln behandelt. Auch wie sich jemand bewegt, stand im Vordergrund. Heute stehen alltagsrelevante und patientenbezogene Ziele im Vordergrund. Es zählt die Aktivität, die der Betroffene selbst ausführen kann, diese wird beübt und gefördert. Früher wurden Patienten auf der Bank liegend behandelt, wobei die Therapie auf einzelne Funktionen oder Strukturen gerichtet war, heute richtet sich die Therapie auf Alltagsaktivitäten. Es geht darum, die Gehfähigkeit, auch die außerhäusliche Gehfähigkeit, möglichst lange zu erhalten, eine Sportart zu finden, Hobbys weiterzuführen und eine Teilhabe am sozialen Leben weiter zu ermöglichen.

 

Wie sieht denn die Behandlung nach dem Paradigmenwechsel aus? Sie haben das jetzt schon angedeutet – es geht viel um Alltagsbewegung. Gibt es noch eine Besonderheit? Was macht diesen Paradigmenwechsel wirklich aus?

Viele Erkenntnisse aus dem motorischen Lernen wurden bereits in die Therapie integriert. Man weiß inzwischen, wie der Mensch motorisch lernt, und wendet es auch aktiv in der Therapie an. Auch viele sportwissenschaftliche Erkenntnisse wurden erfolgreich in die Neuroreha übernommen. In diesem Zusammenhang ist beispielweise das Stichwort Wiederholungen wichtig. Ein Sportwissenschaftler weiß, dass es viele Wiederholungen braucht, um motorisch zu lernen und das Gelernte auch in den Alltag umzusetzen. Der Patient lernt besser, wenn wir einen externen Fokus setzen, d. h. dem Patienten eine Aufgabe geben. Früher hätte man gesagt: „Das Knie anbeugen“, und heute sagt man: „Den Ball kicken!“ Es werden konkrete Aufgaben gestellt, diese können die Patienten besser bewältigen und haben auch mehr Spaß daran. Also viele Erfahrungen aus dem motorischen Lernen und den Sportwissenschaften wurden in das Konzept der modernen Neuroreha übernommen. Auch reine Trainingsprinzipien wie Schnelligkeit, Ausdauer, Krafttraining werden in die Neuroreha integriert.

 

Sie sagen, Therapie, Sport und Selbsthilfe sind Schlagwörter. Da würde mich nochmal interessieren, was Sie unter diesen Begriffen verstehen, gerade im Kontext der Neuroreha?

Sport spielt eine sehr große Rolle. Nicht zufällig sind die letzten Broschüren der Deutschen MS-Gesellschaft diesem Thema gewidmet worden. Ärzte und Therapeuten versuchen heute, MS- und Parkinson-Betroffene zu überzeugen, Sport zu treiben. Es können auch Sportarten sein, wie Boule oder Indiaca. Es gibt viele Sportarten, die in der Natur durchgeführt werden können. Dabei muss auch Tanzen erwähnt werden. Dies kann oft von MS- und Parkinson-Patienten sehr gut durchgeführt werden. Selbst schwer betroffene Patienten, die schon im Rollstuhl sitzen, können beim Rollstuhltanz aktiv sein. Vor allem bei Parkinson-Patienten weiß man um die fantastische Wirkung von Tanzen, die ebenfalls durch wissenschaftliche Studien bestätigt wurde. Zahlreiche Studien belegen außerdem die positive Wirkung des argentinischen Tangos.

Es muss aber nicht unbedingt das Tanzen sein, auch mit Nordic Walking oder gezieltem Training an Geräten kann das gewünschte Ziel erreicht werden. Wichtig ist, dass die Sportart Spaß macht und regelmäßig durchgeführt wird. Auch die Bedeutung der sozialen Aspekte des Sports kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. So wird in der neurologischen Rehabilitation, bei der es um sehr spezifische Ziele geht, der Patient trainiert und aktiviert – das Üben steht auch hier im Vordergrund. Während man früher leider den MS-Betroffen oft geraten hat, sich zu schonen, empfiehlt man heute, viel und durchaus an der Leistungsgrenze zu trainieren. Auch in Bezug auf die Parkinson-Erkrankung herrschte früher teilweise die Meinung, Patienten dürfen nur eingeschränkt Sport treiben. Heute weiß man, dass genau das Gegenteil sinnvoll ist: Patienten sollen körperlich aktiv sein. Aus den USA kennen wir auch einen neuen Therapieansatz – LSVT BIG® bzw. für die Sprache LOUD®. Bei der BIG®-Therapie geht es um aktive Bewegungsabfolgen, die täglich bis zu zwei Stunden trainiert werden und in denen auch Eigentraining integriert ist. Gezieltes Training und Aktivität ist der Paradigmenwechsel in der MS- und Parkinson-Therapie!

 

Therapie und Sport haben Sie erklärt. Was verstehen Sie aber unter Selbsthilfe?

Selbsthilfe bedeutet, dass der Patient und die Angehörigen selbstverantwortlich in die Therapie mit eingebunden werden, beispielsweise im Eigentraining, aber auch bei Alltagsaktivitäten, den Hobbys oder dem Sport. Selbsthilfe bedeutet aber auch die sinnvolle Nutzung von Hilfsmitteln. Hier gilt es, das Hilfsmittel gezielt zu nutzen, wenn es zur Erweiterung der Alltagsaktivitäten dient. MS-Patienten sollten so lange wie möglich viel gehen – jeder Schritt zählt und, wenn nötig, nur zu bestimmten Aktivitäten einen Rollstuhl benutzen, da er die Immobilität fördern kann und die Gehfähigkeit weiter reduziert. Für MS-Betroffene gibt es sehr leichte Fußheberorthesen, die die Betroffenen gezielt beim Gehen unterstützen. Auch für Parkinson-Patienten gibt es Hilfsmittel, die die Mobilität weiter erhalten und auch besser ermöglichen, wie z.B. ein Anti-Freezing-Stock. Die Angehörigen sind genauso aufgefordert, die Betroffenen nicht zu sehr zu unterstützen, sondern eher sie zu aktivieren.

 

Und was kann Ihr Ansatz für wen leisten oder wo sehen Sie dann auch Grenzen? Wann sprechen Sie von einer gelungenen Neurorehabilitation?

Bei MS- und auch bei Parkinson-Patienten ist wirklich sehr, sehr viel möglich. Viele MS-Patienten sind sehr motiviert. Ein Problem bei MS und bei Parkinson stellen jedoch die Depressionen dar. Wenn der Patient depressiv verstimmt ist oder tatsächlich eine Depression hat, kann er nicht aktiv sein. Das kann man dem Patienten nicht vorwerfen, es ist einfach ein gesondertes Problem. Außerdem spielt es natürlich eine Rolle, wie stark der Patient betroffen ist. Wenn er sehr stark betroffen ist und kaum Funktionen hat, dann sind die Grenzen der Neurorehabilitation sicherlich auch erreicht. Hier jedoch verändern sich die Ziele. Es gilt dann, beispielsweise Kontrakturen oder Schmerzen bei schwer betroffenen Patienten zu reduzieren. Bei Parkinson ist es so, dass die medikamentöse Therapie eine wichtige Voraussetzung für die motorische Rehabilitation darstellt. Die Medikamente, bzw. medikamentöse Einstellung, spielen bei dieser Erkrankung eine entscheidende Rolle. Bei MS gibt es, vor allem beim progredienten Verlauf, kausal kaum Medikamente. Hier ist die gezielte motorische Therapie von großer Wichtigkeit.

 

Was bedeutet das jetzt konkret für das Leben und den Alltag derer, die daran teilnehmen? Wenn ich jetzt dieses Reha-Konzept befolge, was bedeutet das für meinen Alltag als Betroffener?

Für die Patienten bedeutet es, dass Funktionen wieder erlangt und verbessert werden können. Das ist für viele Patienten neu. Sie hören immer nur: „Wir sind ja froh, wenn es nicht schlechter wird.“ Und man kann viele Aktivitäten gezielt verbessern, allerdings bedarf es einer genauen Analyse und eines häufigen Trainings. Viele Patienten sind sehr motiviert und bereit, für verbesserte Aktivität auch hart zu trainieren! Man kann Funktionen zurückgewinnen, man kann Gehstrecken erweitern, man kann Alltagsaktionen erweitern. Bei Fahrrädern gibt es zum Beispiel diverse Umbaumöglichkeiten, sodass man wieder mit der Familie Fahrrad fahren kann.

 

Wie viel Aufwand bedeutet es oder was muss ich als Betroffener tun, wenn ich die Reha mache? Wieviel Stunden Sport am Tag bedeutet es?

Es muss ein regelmäßiges Training sein, aber man kann die Übungen in Alltagsaktivitäten verpacken. Wichtig ist, dass Patienten regelmäßig trainieren. Sie sollen aber vor allem auch gezielt trainieren. Ich erlebe es häufig, dass Patienten viel trainieren, jedoch nicht wirklich merkbar Aktivitäten verbessern. Dann trainieren sie meist nicht gezielt an ihren Schwachstellen und funktionellen Hauptproblemen. Auch muss das Training vom Therapeuten gut strukturiert werden. Es ist am besten, wenn ein individueller Trainingsplan erstellt wird. Wirkungsvoll sind eine bis zwei Stunden Training. Wenn die Zeit mit Spaß und über den Tag verteilt wird und wenn Patienten ihre Fortschritte sehen, dann sind viele gerne bereit zu üben und zu trainieren

 

Welchen Ratschlag würden Sie jetzt dem Betroffenen mit auf den Weg geben, gerade in Bezug auf Selbstverantwortlichkeit? Auch auf das Umfeld, was kann es dafür tun?

Es ist wichtig, das Ziel sehr alltagsnah mit dem Patienten abzusprechen. Dann muss genau an diesem Ziel gearbeitet werden. Nehmen wir zum Beispiel ein häufig genanntes Ziel: das Gehen verbessern. Dann sollte ein gezielter Trainingsplan erstellt werden, bei dem entweder an der Ausdauer, an der Schnelligkeit oder am Gleichgewicht gearbeitet wird. Welches Trainingsziel vorrangig ist, muss in einer genauen Analyse erkannt werden. Auch ein strukturiertes Krafttraining kann sinnvoll sein. Es funktioniert nicht so, dass sich der Patient auf die Bank legt und der Therapeut die Arbeit erledigt. Gezieltes Trainieren nützt!

 

Und das Umfeld?

Das Umfeld sollte darüber informiert werden, dass zu viel Unterstützung schadet und nicht immer Hilfe angeboten werden soll. Vielmehr sollen Angehörige helfen, den Patienten zu aktivieren. Und hier kann das Umfeld sinnvoll mithelfen.

 

An wen kann sich der Betroffene konkret wenden, auch gerade wenn er das Gefühl hat, dass die ihm angebotene Physiotherapie nicht ausreicht, oder dass er nur passiv therapiert wird?

Selbsthilfegruppen kennen sich oft gut aus. Der Patient kann in eine Praxis gehen, die Trainingsgeräte, zum Beispiel ein Laufband hat. Wichtig ist, dass die Therapeuten etwas Aktives mit dem Patienten machen und den Alltag und ggf. auch Sportarten und Alltagsaktivitäten strukturieren und besprechen. Also Eigenverantwortung an den Patienten und ggf. auch an die Angehörigen abgeben. Es nützt wie so oft, seinen klaren Menschenverstand einzusetzen und gezielt nachzufragen.

 

Zusammengefasst heißt es also – gesunden Menschenverstand einschalten, schauen, ob gezielt aktiviert oder trainiert wird und nicht passiv behandelt, sondern aktiv gearbeitet wird. Selbsthilfegruppen sind oft gute Informationsquellen.

Bei MS und Parkinson sind außerdem die Broschüren verschiedener Verbände, u.a. der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG) und der Deutschen Parkinson Vereinigung sehr hilfreich und informativ. Sie enthalten viele Tipps und Anregungen.

 

 

 

Michael Doh: Dok.Ass
Latest Revision: 2015-10-13
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